Hungerlager, Massengräber, Erniedrigung: Verstörende Erkenntnisse zur Zwangsarbeit im Schleidener Land
Journalist und Buchautor Franz Albert Heinen hat sich in seinem Buch „Abgang durch Tod“ intensiv mit der Zwangsarbeit während der Nazizeit im Altkreis Schleiden beschäftigt – Mindestens 337 Todesopfer – Sowjetische Kriegsgefangene mussten bis zum Umfallen schuften – Zeitzeugen erinnern sich – Erstmals wird auch der Zwangsarbeitseinsatz in der Forstwirtschaft des Rheinlandes in den Blick gebracht – Kreissparkasse Euskirchen unterstützte das engagierte Projekt – Buchvorstellung am 18. März
Schleiden – Als Franz Albert Heinen vor einigen Jahren damit begann, Nachforschungen zur Lebenswirklichkeit von Zwangsarbeitern im ehemaligen Kreis Schleiden während der NS-Diktatur anzustellen, erhielt er sehr oft die stereotype Antwort: „Unser Pole hatte es gut“. Doch wieviel Wahrheitsgehalt steckte wirklich in dieser Antwort, und wieviel daran war nur Gemeinplatz? Dieser Frage ging der Autor über vier Jahre lang sehr intensiv nach, in denen er den Spuren der Zwangsarbeiter folgte, von den Dokumenten in kommunalen Archiven vor Ort bis hin zum digitalisierten Bestand des Archivs des International Tracing Service (ITS) in Bad Arolsen.
Neben seiner akribischen Recherchearbeit begann der Autor, Zeitzeugen ausfindig zu machen, ihnen Fragen zu stellen und zuzuhören. „Das war schließlich 40 Jahre lang mein Job als Tageszeitungsredakteur“, berichtete Heinen bei einem Pressegespräch. Auf diese Weise gelang es ihm, dass 32 Zeitzeugen nach über 70 Jahren ihr Schweigen brachen und ihre Erinnerungen an Zwangsarbeiter erstmals der Öffentlichkeit mitteilten.
Eine „Russenkolonne“ mit zwei zu Tode erschöpften Arbeitern kehrt am Abend zurück ins Lager Emgessiefen. Zeichnung: Hubert Vitt
Das Buch schiebt die Gemeinplätze der Nachkriegszeit, die die individuelle Erinnerung durch ein kollektives Unschulds-Mantra ersetzten, behutsam beiseite und legt mit Fakten und Zeugenaussagen nach und nach eine Wirklichkeit frei, die von Hungerlagern und Massengräbern sowie von der Erniedrigung, Erhängung und Erschießung von Menschen im Schleidener Land gekennzeichnet war. Der Satz „Unser Pole hatte es gut“ zeigt sich dabei überwiegend als Ausdruck einer kollektiven Verdrängungsleistung, wenngleich Heinen auch durchaus positive Beispiele aufzeigen kann, die diesen Satz in einigen Fällen rechtfertigten.
Der Journalist verweist für die Zeit von 1939 bis 1945 auf mindestens 337 Todesopfer unter den Zwangsarbeitern im ehemaligen Kreisgebiet. Die größte Opfergruppe bildeten dabei die sowjetischen Kriegsgefangenen, die ab Herbst 1941 vielfach aus Hungerlagern kamen. Teilweise waren sie bereits dem Tode nahe, als sie zu den Arbeitskommandos in der Eifel geschickt wurden, wo sie unter entsetzlichen Bedingungen und unvorstellbaren Leiden bis zum Umfallen schuften mussten. Nicht selten wurden sie in Massengräbern verscharrt, wenn sie beispielsweise bei der Waldarbeit infolge ihrer Schwäche zusammenbrachen und starben.
„Von den mehr als 230 umgekommenen sowjetischen Gefangenen zwischen Heimbach und Ahrdorf gingen mehr als 130 bereits im ersten Halbjahr in der Nordeifel zugrunde. Sie wurden bislang in keiner Opferliste für den Kreis Schleiden berücksichtigt. »Abgang durch Tod«, notierte die Wehrmachtverwaltung in kalter Bürokratensprache in der Personalkarte des Opfers“, so Heinen.
Massengrab von russischen Kriegsgefangenen auf dem Judenfriedhof in Blumenthal. Bild: Dr. Rathschlag, Schleiden
Noch weit höher als die Zahl der Kriegsgefangenen in den Arbeitskommandos sei die Zahl der überwiegend aus den besetzten Gebieten Polens und der Sowjetunion in die Nordeifel verschleppten zivilen Zwangsarbeiter gewesen. Nur ein geringer Teil sei freiwillig gekommen, rund 95 Prozent, so Heinen, seien unter teils grausamen Umständen aus ihren Heimatländern verschleppt worden.
Dabei sei es den Landwirtschaftshelfern, die, obwohl dies verboten war, oft gemeinsam mit den Bauernfamilien zu Mittag speisten, deutlich besser ergangen als denjenigen, die in den Massenlagern großer Betriebe arbeiten mussten. Denn auf den Höfen habe man sich an den Arbeitsnotwendigkeiten und weniger an ideologischen Vorgaben des Regimes orientiert.
„Bettenschnüffelei“
Verstöße gegen das Verbot, sexuelle Kontakte zu deutschen Frauen zu unterhalten, wurden streng geahndet. Heinen zeigt auf, wie perfekt das Überwachungsnetz der organisierten „Bettenschnüffelei“ der Nazis selbst im Eifeler Hinterland funktionierte. Bei Verdacht, dem meistens eine Denunziation vorausging, zögerte die Geheime Staatspolizei nicht, zahlreiche Polen und Sowjetbürger in die Konzentrationslager zu überstellen, wo viele von ihnen starben.
Der Autor untersucht auch die Einsatz-Schwerpunkte der Ausländer, unter denen die Landwirtschaft die meisten Helfer beanspruchte, gefolgt von Forst- und Holzwirtschaft, Reichsbahn und Industrie. Im Ergebnis schätzt Heinen die Zahl der Zwangsarbeiter (Kriegsgefangene und Zivilarbeiter) im ehemaligen Kreisgebiet auf zwischen 5.000 und 6.500 Frauen und Männer.
Neben der detaillierten und detektivischen Archivarbeit, die das Buch auszeichnet, sowie den zahlreichen bislang unveröffentlichten Fotos und der nicht zu unterschätzenden Leistung, dass Heinen vielen der bislang unbekannten Opfer ihre Namen und einigen sogar eine rudimentäre Biographie und ein Gesicht zurückgegeben hat, muss man vor allem die Zeugenaussagen lobend erwähnen, die dem Buch eine große Anschaulichkeit und Emotionalität verleihen. Manche Geschichten, wie die zweier Schwestern, die sich in polnische Zwangsarbeiter verliebten, Kinder bekamen und von der Gestapo drangsaliert wurden, die Väter zu nennen, lassen dem Leser hautnah die menschlichen Ängste hinter den nackten Zahlen erleben.
An keiner Stelle seines Buches schwingt Heinen die moralische Keule oder kritisiert den mangelnden Widerstand der Eifeler Bevölkerung gegen die unmenschlichen Lebensbedingungen der Zwangsarbeiter. Vielmehr arbeitet er heraus, dass die pausenlose Infiltrierung durch die völkische Propaganda bis in die hintersten Winkel des Deutschen Reichs ihre Wirkung zeigte. Die behauptete moralisch-sittlich-kulturelle Unterlegenheit der osteuropäischen „Untermenschen“ war längst keine rhetorische Floskel mehr, wie sie nach wie vor in der politischen Agitationsrede in Dauergebrauch war. Sie war vielmehr nicht nur in den kriegerischen, die Genfer Konventionen missachtenden Auseinandersetzungen an der Ostfront („Vernichtungskrieg“), sondern auch im deutschen Hinterland eine längst gelebte Wirklichkeit. Die Erziehungs-, Straf- und Arbeitslager waren überall. (Heinen zählt allein für das Schleidener Kreisgebiet mehr als 60 Lager.) Die Erniedrigung von Ausländern war Alltag. Das Bewusstsein der Deutschen war durch jahrelange ideologisierte Radio- und Zeitungsbeiträge nachhaltig degeneriert, wenngleich es in der Eifel auch in größerem Ausmaß verbotene Hilfe gab, wie der Autor nachweisen kann. Doch ein paar auf die Straße gestreute Kartoffeln und Brotkrumen für die vorbeiziehenden sowjetischen Kriegsgefangenen verdienen zwar als menschliche Geste Respekt, sie waren jedoch keine wirkliche Hilfe gegen das Verhungern, die die Bevölkerung allerdings auch nicht hätte erbringen können, geschweige denn erbringen dürfen.
Tod in der Forstwirtschaft
Heinens Buch exemplifiziert nicht einfach nur die Ergebnisse überregionaler Zwangsarbeiterforschung am eigenen Heimatkreis. Im Gegenteil: Aus einem topographisch begrenzten Raum, der intensiv durchleuchtet wird, verweist es vielmehr pars pro toto auf den desaströsen und zutiefst inhumanen Zustand der Zwangsarbeit im gesamten Deutschen Reich während der Jahre 1939 bis 1945. Darüber hinaus aber rückt diese Publikation erstmals den Zwangsarbeitseinsatz in der Forstwirtschaft des Rheinlandes in den Blick, der bisher noch überhaupt nicht untersucht wurde. Dieser Waldeinsatz bildete in den rheinischen Mittelgebirgen jedoch einen wesentlichen Schwerpunkt für den Einsatz sowjetischer Kriegsgefangener. „Und gerade bei den Waldarbeiterlagern der Nordeifel befanden sich 1945 die Massengräber“, so Heinen.
Alles in allem ist dieses Buch auch über 70 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg immer noch eine mutige Auseinandersetzung mit Ereignissen, die nach dem Krieg ganz bewusst von administrativer Seite, beispielsweise durch das Entfernen von Zwangsarbeiterfriedhöfen und Grabsteinen, dem kollektiven Vergessen anheimgegeben wurden. Auch haben sich längst nicht alle Firmen und Institutionen, die von der Zwangsarbeit profitiert haben, zu ihrer eigenen Geschichte bekannt. Umso wichtiger wäre es jetzt, so eine Forderung des Autors, dass auch die Politik die Befunde dieses Buches zum Anlass nimmt, beispielsweise über einen gemeinsamen Erinnerungsort für die Zwangsarbeiter an einem frequentierten Platz im Schleidener Land nachzudenken.
Freuten sich über die gelungene Publikation des Buches: Der Autor Franz Albert Heinen und die Direktorin des KSK-Vorstandsstabs Rita Witt. Bild: Michael Thalken/Eifeler Presse Agentur/epa
Um das aufwendig gestaltete Buch möglichst vielen Menschen zugänglich machen zu können, suchte der Autor einen Partner, der sein Projekt unterstützte und für die 1. Auflage die Druckkosten übernahm. „Nur so ließ sich der Ladenpreis relativ gering halten“, berichtete Heinen. Die Kreissparkasse Euskirchen war sehr schnell bereit, bei der Publikation des Buchs finanziell behilflich zu sein. „Über 70 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg muss es möglich sein, über die Zwangsarbeit im Schleidener Tal ohne Hemmungen und ohne falsche Scham sprechen zu können“, erläuterte Rita Witt, Direktorin des KSK-Vorstandsstabs und Vorsitzende der beiden KSK-Stiftungen, den Beweggrund des regionalen Kreditinstituts. Nur eine schonungslose Aufklärung der Vergangenheit könne einer Wiederholung von Geschichte entgegenwirken. Witt: „Denn nicht zuletzt lässt sich dieses Buch auch als Mahnung lesen, die zivilgesellschaftlichen Strukturen gegen jegliche ideologischen Angriffe frühzeitig mit bürgerschaftlichem Engagement zu verteidigen. Zeigt das Buch doch sehr anschaulich, dass, wenn die Strukturen eines Unrechtsstaats einmal zementiert sind, es andersdenkenden Bürgern – selbst wenn sie zahlreich sein sollten – nicht mehr gelingt, mit guten Taten die bösen Taten zu neutralisieren.“
Zur öffentlichen Buchvorstellung mit dem Autor lädt das Geschichtsforum Schleiden für Sonntag, 18. März, 15 Uhr, in die Aula des Städtischen Johannes Sturmius-Gymnasiums in Schleiden ein. Die inhaltliche Vorstellung will der Euskirchener Historiker und langjährige frühere Vorsitzende des Kreisgeschichtsvereins, Dr. Reinhold Weitz, übernehmen. Zu der Veranstaltung sind alle Interessierten aus dem Kreisgebiet herzlich eingeladen. Der Eintritt ist frei.
Franz Albert Heinen: „Abgang durch Tod“. Zwangsarbeit im Kreis Schleiden 1939-1945. Hrsg. vom Geschichtsforum Schleiden e.V. 476 Seiten, DIN-A-5, Hardcover. 14,80 €. ISBN 978-3-00-059006-1.
Das Buch ist ab dem 19. März regional im Buchhandel oder online beim Verein gegen Vorkasse erhältlich: www.publikationen.gf-sle.de
Eifeler Presse Agentur/epa
Zum Autor:
Franz Albert Heinen (Jg. 1953) war fast vier Jahrzehnte als Tageszeitungsredakteur im Kreis Euskirchen tätig. Bekannt wurde er vor allem mit Buchveröffentlichungen zur Regionalgeschichte des 20. Jahrhunderts, die von überregionalem Interesse waren. So erstellte er im Jahre 2000 eine umfangreiche Dokumentation zur Geschichte des ehemaligen Rüstungsbetriebes „Espagit“ in Hallschlag unter dem Titel „Die Todesfabrik“ und begleitete intensiv die Gründungsphase des nordrhein-westfälischen Nationalparks Eifel. Besonderes Augenmerk legte er dabei auf die im Nationalpark gelegene ehemalige NS-Ordensburg Vogelsang. Unter dem Titel „Vogelsang. Von der NS-Ordensburg zum Truppenübungsplatz“ stieß er 2002 eine umfangreiche Debatte um mögliche Nachfolgenutzungen der geistigen Altlast Vogelsang an.
Heinen engagiert sich für die Entwicklung der ehemaligen NS-Ordensburg zu einem Zentrum „Lernort Vogelsang“. In seinem Buch „Gottlos, schamlos, gewissenlos. Zum Osteinsatz der Ordensburg-Mannschaften“ wies der Autor 2007 nach, dass der zwischen 1936 und 1939 auf Vogelsang ausgebildete Nazi-Führungsnachwuchs im Zweiten Weltkrieg nicht nur als Soldaten, sondern häufig auch als Zivilverwalter in den besetzten Ostgebieten eingesetzt wurde und einige dieser „Ordensjunker“ sich tief in die Verbrechen des Holocaust verstrickten. Heute gilt das als ‚Stand der Forschung‘.
Der parteilose Journalist erhielt 2011 für seine Forschungen zu den Ordensburgen den Horst-Konejung-Preis.