Esther Bejarano: Mit 93 Jahren noch immer Mitglied einer Hip-Hop-Band

Die Überlebende des Mädchenorchesters Auschwitz gastierte mit der „Microphone Mafia“ im St. Michael-Gymnasium – Traurige Lebenserinnerungen und mutiger Rap gegen Rechts

 

Bad Münstereifel – Wenn man zum ersten Mal davon hört, dass eine Überlebende von Auschwitz gemeinsam mit einer Band namens „Microphone-Mafia“ Konzerte gibt, hat man das Gefühl, hier passe irgendetwas nicht so recht zusammen. „Total bescheuerter Bandname“, soll die heute 93-jährige Esther Bejarano denn auch gesagt haben, als Bandleader Kutlu Yurtseven vor einigen Jahren bei ihr anfragte, ob sie sich eine Kooperation mit seiner Hip-Hop-Band vorstellen könne. Doch dann begann etwas, was Esther Bejarano vor allen anderen Menschen, die wahrscheinlich nach so einer Anfrage den Hörer wieder auf die Gabel geknallt hätten, auszeichnet: Sie ließ sich nicht vom Äußeren eines Namens abschrecken, sondern gab den Musikern eine Chance und hörte sich ihre Lieder an. Mehr noch, sie war sogleich begeistert von den Texten der Band, weil sich darin ihr eigenes Lebensgefühl widerspiegelte, und also willigte sie ein.

Am Dienstagabend war Esther Bejarano gemeinsam mit ihrem Sohn Joram Bejarano und dem „eingeenkelten“ Kutlu Yurtseven zu Gast im St. Michael-Gymnasium in Bad Münstereifel. Die Dame, die an die 200 solcher Veranstaltungen im Jahr absolviert, war geradewegs aus Hamburg angereist, kam aufgrund eines Navi-Problems etwas zu spät, wollte sich aber nicht ausruhen, sondern erstieg noch im Mantel die Bühne, um die Besucher im komplett besetzten Klausurraum der Schule nicht länger warten zu lassen.

Die Überlebende von Auschwitz, Esther Bejarano, las aus ihren Erinnerungen. Bild: Michael Thalken/Eifeler Presse Agentur/epa
 

Im ersten Teil des Abends las Esther Bejarano aus ihren Erinnerungen: Sie berichtete von ihrer Ankunft in einem vollbesetzten Viehwaggon im April 1943 in Auschwitz-Birkenau. Kranke, Gehbehinderte, Schwangere, Frauen über 45 Jahre und Frauen mit Kindern wurden direkt bei der Ankunft aussortiert und in die Gaskammern transportiert. Die SS-Leute, darunter auch Frauen, begrüßten die Neuankömmlinge mit den Worten: „So, ihr Saujuden, jetzt werden wir euch mal zeigen, was arbeiten heißt.“

Den Ankommenden wurden die Haare geschoren, sie bekamen Sträflingskleider und eine Nummer in den Unterarm tätowiert. Von da an war Esther Bejarano nur noch das Mädchen Nr. 41948. Im Lager Birkenau musste sie sich mit bis zu zehn Frauen die Koje in einem ehemaligen Pferdestall teilen. „Wir mussten eine völlig sinnlose Arbeit verrichten“, erinnerte sie sich. So transportierten sie unter der Prügel von SS-Schergen schwere Steine von einem Ende des Geländes zum anderen und wieder zurück. Doch die kleine Esther hatte Glück. Da sie gut singen konnte – ihr Vater war Oberkantor – durfte sie für die Blockältesten Lieder von Schubert, Bach und Mozart singen und erhielt dafür eine Extraration Brot. In der Funktionsbaracke wurde man aufmerksam auf sie. Sie wurde zur Prüfung für das Mädchenorchester einbestellt. Obwohl sie eigentlich nur Klavier und Flöte spielen konnte, behauptete sie, auch das Akkordeon zu beherrschen, denn ein Klavier gab es vor Ort nicht. Schließlich übte sie solange, bis sie auf dem Akkordeon den Schlager „Du hast Glück bei den Frauen, Bel Ami“ fehlerlos spielen konnte, und wurde angenommen.

„In der Funktionsbaracke, wo wir Musiker mit den Schreiberinnen und Dolmetscherinnen untergebracht waren, gab es richtige Betten“, so Esther Bejarano. Doch das Essen habe meist nur aus einer Wassersuppe mit Kartoffelschalen oder Brennnesseln bestanden.

Das Orchester musste aufspielen, wenn die Arbeitskolonnen das Lager verließen oder heimkehrten, oder wenn die SS hohe Funktionäre zu Gast hatte. „Auch wenn neue Transporte ankamen, die für die Gaskammer bestimmt waren, mussten die Musikantinnen am Tor stehen und Musik machen. Aus ganz Europa kamen die Menschen und fuhren direkt ins Gas. Und sie dachten, wenn da Musik gespielt wird, dann kann es wohl nicht so schlimm sein.“

Als eine zweite Akkordeonistin hinzukam, sattelt Esther auf Blockflöte um. Sie hatte bereits Typhus und als noch der Keuchhusten hinzukam, wurde das Flötespielen unmöglich. Jemand brachte ihr rasch ein paar Akkorde auf der Gitarre bei und sie konnte im Mädchenorchester bleiben.

Da sie väterlicherseits eine christliche Großmutter besaß, stufte sie der berüchtigte Lagerarzt Josef Mengele als Viertelarierin ein und sie wurde in das Frauenstraflager Ravensbrück verlegt. Dort musste sie zunächst Kohleloren be- und entladen, später arbeitete sie in einer Filiale der Siemenswerke, in der Montagearbeiten für Kriegsgerät ausgeführt wurden. Nach zwei Jahren wurde ihr der Judenstern von der Kleidung entfernt und durch den roten Winkel ersetzt, dem Zeichen für politisch Gefangenen. „Aber im Herzen bin ich immer Jüdin geblieben“, sagte sie.

Als die Sowjets im Anmarsch waren, wurde das Straflager geräumt und Esther Bejarano unter Bewachung von SS-Einheiten auf einen Todesmarsch nach Mecklenburg geschickt. Später konnte sie sich mit sieben weiteren Mädchen vom Trupp absondern und fliehen, bis sie auf die ersten Amerikaner traf, die sie herzlich aufnahmen. Das letzte Bild, das Esther Berajano an diesem Abend entwirft, hat große Symbolkraft: Amerikaner und Russen, eng umschlungen vor Freude, verbrennen gemeinsam ein riesiges Bild von Adolf Hitler.

Kutlu Yurtseven (v.l.), Esther Bejarano und Joram Bejarano gaben im St. Michael-Gymnasium ein beeindruckendes Konzert. Bild: Michael Thalken/Eifeler Presse Agentur/epa

 

Der zweite Teil des Abends macht eine deutliche Zäsur. In den gerappten Liedern des Trios geht es vor allem um den Mut, sich der Gewalt, dem Terror, der rechten Propaganda und den Angriffen auf die Freiheit immer wieder neu entgegen zu stellen. Der „eingeenkelte“ Kutlu – er selbst hat dieses Wort erfunden – rappt in deutscher, italienischer und jiddischer Sprache mit der akrobatischen Präzision eines Zirkusjongleurs. Das Publikum erlebt ausgeklügelte Hip-Hop-Versionen jüdischer oder italienischer Partisanenlieder, gepaart mit Songs von Bertolt Brecht und Hanns Eisler oder auch den „Höhnern“. Joram spielt dazu unaufdringlich aber verlässlich den Bass. Und Esther Bejarano ist für die mitreißenden Refrains zuständig, in denen sie sich, wie beispielsweise in „Avanti Popolo“ (Bandiera rossa), noch immer kämpferisch und voller Lebensfreude gibt. Da wird auch schon mal eine Faust gereckt. In einem kürzlich gesendeten Fernsehinterview bei Anne Will, sagte sie: „Ich will singen, bis es keine Nazis mehr gibt.“ Und nur aus diesem einzigen Grund würde man ihr etwas mehr Ruhe wünschen.

Die begeistert aufgenommene Veranstaltung wurde ausgerichtet vom St. Michael-Gymnasium und der Stadt Bad Münstereifel im Rahmen der Veranstaltungen zur Reichspogromnacht vor 80 Jahren. „Ziel ist es, in unserer Stadt eine lebendige Erinnerungskultur zu pflegen“, so Michael Mombauer, Lehrer am St. Michael. Möglich werden die Veranstaltungen durch zahlreiche Unterstützer wie unter anderem die Kreissparkasse Euskirchen (KSK), die Akademie Vogelsang, die Bürgerstiftung Bad Münstereifel sowie die Buchhandlungen vor Ort.

 

Eifeler Presse Agentur/epa